Die Studentenbewegung der 1960er Jahre - Ereignisse in RT

Ereignisse in Reutlingen

 

Auch in meinem Geburts- und Schulort Reutlingen tobte die Revolution. Selbstverständlich begab ich mich auf die Suche nach neuen, diesmal regionalen Quellen, und wurde fündig: Durch eine interessante Spurensuche und zahlreiche Gespräche mit Zeitzeugen aus Reutlingen bekam ich Originaltexte aus den 60-er Jahren in die Hände:

1. Flugblatt des Reutlinger SDS (Sozialistischer Deutscher Studentenbund) gegen die "Landtagsgurken"

GESUCHT WERDEN

Die Landtagsgurken von Amselfinger über Belzekinger, Goldfinger, Hirnlinger bis Rädelsfinger, Vilbinger, Wurzinger und Zundelbringer

WEGEN

1. Amtspflichtverletzung gem. §839 BGB, Art. 34GG i. Verb.m.Art.27 Abs. 3 Verf.d.Landes Bad.-Württ. (korresp.m.Art.20 Abs. 2 Satz 1 GG)

Art.34 GG: "Verletzt jemand in Ausübung eines ihm anvertrauten öffentlichen Amtes die ihm einem Dritten gegenüber obliegende Amtspflicht, so trifft die Verantwortlichkeit grundsätzlich den Staat oder die Körperschaft, in deren Dienst er steht."

Art27 Abs.3 Verf.d.Landes Bad.-Württ.:"Die Abgeordneten des Landtages sind Vertreter des ganzen Volkes."

Art25 Abs.1 Verf.d.Landes Bad.-Württ.:"Die Staatsgewalt geht vom Volke aus."

2. Verfassungsverrat gem. §89 STGB i.Verb.m. §88 Abs.2 Nr.1,2,6 wegen Verletzung der verfassungsmäßigen Ordnung (Verweis auf Art.38 und 20 GG)

§89 STGB:"Wer es unternimmt, durch Missbrauch oder Anmaßung von Hoheitsbefugnissen 1. den Bestand der BRD zu beinträchtigen oder 2. einen der in §88 bezeichneten Verfassungsgrundsätze zu beseitigen oder außer Geltung zu setzen, wird wegen Verfassungsverrates mit Zuchthaus bestraft. In besonders schweren Fällen kann auf lebenslanges Zuchthaus erkannt werden."

§88 Abs.2:" Verfassungsgrundsätze sind: Nr.1 Recht des Volkes, die Staatsgewalt...durch besondere Organe der Gesetzgebung...auszuüben.Nr.2 Bindung der Gesetzgebung an die verfassungsmäíge Ordnung...Nr.6 Der Ausschluss jeder Gewalt und Willkürherrschaft."

3. Gröblicher Verletzung der Informationspflicht, Geheimklügelei, leidenschaftlicher Dummheit, dazu im Amte, in Tateinheit mit unglaublicher Arroganz, Bedrohung Abhängiger und böswilliger Verunglimpfungt Andersdenkender.

Die unter 3 genannten Delikte können nicht strafrechtlich verfolgt und geahndet werden, denn sie fallen unter die Maxime: WER SICH SELBST GESETZE MACHT, KOMMT NICHT DARIN UM!

D i e    A n g e k l a g t e n   s i n d   s c h u l d i g   i m   S i n n e   d e r   A n k l a g e.

Sie haben vorsätzlich und absichtlich mit allen Mitteln der Macht, mit Verhetzung, Manipulation und Gewaltandrohung durch das Hochschulgesetz die Legalisierung staatlicher Willkür geplant und wollen sie durchführen.

(Rückseite:)

Zweckdienliche Angaben, die zur sofortigen Enteignung der Täter und ihrer Abschiebung in befreundete Staaten wie Spanien und Griechenland führen, nimmt jedes SDS-Mitglied ohne Ansehen der Person entgegen.

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Wie wir alle wissen, leben wir in einem freiheitlich-demokratischen Rechtsstaat. Wir üben unsere Demokratischen Rechte und Pflichten aus. Das stellt sich folgendermaßen dar:

1. Wir zwingen die Landtagsabgeordneten, das anti-demokratische Hochschulgesetz nicht zu verabschieden, sonderm gemeinsam mit uns darüber zu diskutieren, um anschließend alle Gesetze, die nur als Druckmittel von oben nach unten konzipiert sind, zu verhindern.

Juristisch nennt man das heute "Parlamentsnötigung" und bestraft es mit Zuchthaus nicht unter 5 Jahren.

2. Wir üben das Recht auf ständige Kontrolle der Volksvertretung aus, indem wir in die Landtagssitzung hineingehen, um uns über das Handeln der Abgeordneten aus eigener Anschauung zu informieren.

Man verhindert dies schon dadurch, dass man den Studenten, d.h. den unmittelbar Betroffenen, keine Eintrittskarten für das Parlament gibt; das Verfahren kommt einer Aussperrung gleich. Juristisch nennt man das heute "Bannkreisverletzung" oder "Verletzung des Parlamentsfriedens" und bestraft es mit Gefängnis bis 6 bzw. 3 Monaten, für sog. Rädelsführer bis zu 2 Jahren.

3. Wir üben das Recht auf öffentliche Meinungsäußerung aus, indem wir jederzeit spontan und notfalls in Massen demonstrieren.

Juristisch nennt man das eine spontane Demonstration gegen das Hochschulgesetz eine "unangemeldete Versammlung" und bestraft einzelne, willkürlich Herausgegriffene als "Veranstalter" (sog. Rädelsführer) mit Gefängnis bis zu 6 Monaten.

4. Schon der Verdacht, dass während der spontanen Demonstration ein Frischei geworfen werden könnte, wird juristisch zum "Landfriedensbruch" umgemünzt und mit Gefängnis nicht unter drei Monaten, für Rädelsführer bis zu 10 Jahren Zuchthaus bestraft.

TREFFPUNKT   9h STUTTGART    - SCHLOSSPLATZ-

Anreisemöglichkeiten: Bahn: Tbg.ab 7.05 h, Stuttg.an 8.10 h

                      oder Tbg.ab 8.00 h, Stuttg.an 9.05

                      Bus (ab Clubhaus) ab 7.25 h, Stuttg.an 8.45 h

SDS  SDS  SDS  SDS  SDS  SDS  SDS  SDS  SDS  SDS  SDS  SDS  SDS  SDS SDS  SDS  SDS  SDS  SDS  SDS

2. Flugblatt von Reutlinger Arbeitern, Schülern und Studenten gegen die Notstandsgesetze, mit einer Protestaufforderung auf dem Marktplatz

Wollen Sie den Notstandsstaat?

An alle Reutlinger Bürger!

Die Bonner Parteien wollen morgen die umstrittenen Notstandsgesetze verabschieden.

Kennen SIE eigentlich die Tragweite dieser Gesetze?

Die Notstandsgesetze beschränken die Grundrechte:

  • das Streikrecht
  • das Briefgeheimnis
  • die Freizügigkeit
  • die freie Berufswahl
  • ...

Die Notstandsgesetze ermöglichen:

  • die Ausschaltung des Parlaments
  • die Lynchjustiz gegen Andersdenkende
  • die Beschlagnahmung von Privateigentum
  • die Dienstverpflichtung deutscher Bürger auf Grund von NATO-Beschlüssen...

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Protestieren auch Sie gegen die Aushöhlung unseres Grundgesetzes

heute 16.30 h

auf dem Reutlinger Marktplatz

Reutlinger Arbeiter, Schüler und Studenten, USSG, RCR, LSD.

 

3. Flugblatt der Reutlinger USG (Unabhängige Schülergewerkschaft) gegen das Bildungssystem, speziell gegen den Geschichtsunterricht, mit Diskussionstermin

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UNSER GESCHICHTSUNTERRICHT IST MISERABEL!

251039 v.Chr. Geburt des Neandertalers

1519 v.Chr. Krieg zwischen Ramses dem Schiefen und einem Beduinenstamm

1768 n.Chr. August der Starke bekommt sein 302. Kind geschenkt

1967 n.Chr. Der deutsche Schüler erreicht durch den Geschichtsunterricht das Stadium der Idiotie

a) "Kennedy: ist der größte Versager der amerikanischen Geschichte."

b) Bismarck: "der hochgewachsene, überschlanke junge Mann mit dem dichten hellblonden Haar und den Sommersprossen war ein lebenslustiger und kampffroher Student." - "In Bismarcks Glauben wurzelten seine sittlichen Kräfte, sein Verantwortungsbewusstsein und seine Demut vor der Geschichte."

Marx: "1843 heiratete er Jenny von Westphalen, sie blieb ihm durch Not und Armut eine treue Gefährtin. Denn das Leben dieses hochbefähigten Mannes war eine Kette von Misserfolgen."

Lenin: "Als er 1917 nach Russland zurückkehrte, drohte die bolschewistische Partei gerade mit der provisorischen Regierung zu paktieren. Da stieg der untersetzte Mann mit den leicht mongolischen Zügen, dem kleinen Spitzbart und dem luziferischen Funkeln in den listigen Augen auf die Rednertribüne..."

Unser Geschichtsunterricht besteht aus:

  • einer zusammenhanglosen Auhäufung von Tatsachen
  • Berichten über Kriege
  • Kindheitserzählungen und Handlungen bedeutender Männer
  • allgemeinen, nicht begründeten Wertungen
  • witzigen Anekdoten

Und das erhält den Anschein von absoluter Wahrheit und Objektivität.

Durch diesen Geschichtsunterricht wird abgelenkt von ökonomischen und soziologischen Gegebenheiten, die

  • eigentliche Ursachen sind für Kriege
  • "große Männer" an die Macht bringen
  • sie und ihre Regierungsformen bestimmen

Wir werden systematisch verdummt. Uns wird unkritisches Verhalten beigebracht. Denn die Wirkung der Vorsehung und einzelne, zusammenhanglose Ereignisse kann man nicht kritisieren.

So lernt der Schüler, dass er ganz unbedeutend ist, dass "die da oben" ja immer alles besser wissen, dass alles vorbestimmt ist und dass wir daran nichts ändern können.

Denn er lernte ja nie, sich mit den Gedanken und Ansichten anderer kritisch auseinanderzusetzen.

Diese Anschauung überträgt sich auf unsere Haltung zu unserem "demokratischen" Staat und der Gesellschaft.

Niemand will sich mehr engagieren...

DISKUSSION heute, Freitag, dem 24. November 1967 im RATSSTÜBLE, Haaggasse 1! 19.00 Uhr

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4. Flugblatt der Reutlinger esg (Evangelische Studentengemeinde) gegen die Notstandsgesetze

esg esg esg esg esg esg esg esg esg esg esg esg esg esg esg esg esg esg esg esg

Keine Experimente mit dem GRUNDGESETZ

Das Grundgesetz will eine freiheitlich-demokratische Grundordnung gewährleisten. Durch Große Koalition und Pressekonzentration ist sie von innen her ausgehöhlt. Durch die Notstandsgesetze wird sie auch von der Verfassung her eingeschränkt.

Sowie der Spannungsfall eingerufen wird, gilt:

1) für die gesamte Bevölkerung: Einschränkung der Grundrechte auf Freizügigkeit und damit auch auf Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit.

2) für Männer und Frauen: allgemeine Dienstverpflichtung

3)für Arbeitnehmer: Einschränkung des Streikrechts

4) für die Bundeswehr: möglicher Einsatz gegen die Bevölkerung

5) für das Parlament: mögliche Entmachtung durch NATO-Beschluss

Wann kann der Spannungsfall ausgerufen werden?

Bereits bei einer Nahostkrise!

Bereits bei Studentenunruhen!

Bereits dann kann der Notstandsapparat sich in Bewegung setzen und uns alle erfassen!

Doch schon lange davor ist das Grundrecht des Post-, Telefon- und Fernmeldegeheimnisses eingeschränkt, arbeiten die "einfachen" Notstandsgesetze...

Aber es geht uns nicht nur um persönliche Grundrechte, es geht uns um Feiheit für Staat und Gesellschaft. Bürokratische Mentalität, autoritäre Ordnungssucht und massives wirtschaftliches Interesse bewirken den Notstand der Demokratie in:

1) der Gefahr wachsender Manipulation der Arbeitnehmerschaft

2) der Gefahr eines legalen Staatsstreiches wie 1933

3) der Gefahr der ständigen Spannungshysterie

4) der Gefahr einer fortdauernden Kalten-Kriegs-Hysterie

Auch wenn Politiker dies nicht wollten, haben sie diese Gefahren herbeigeführt, und durch die unfaire Hast des Verfahrens haben sie zusätzlich Misstrauen erweckt. Dieser Notstand der Demokratie fordert jetzt demokratischen Widerspruchsgeist:

1) Verstehen Sie bitte unsere gegen die Notstandsgesetze gerichteten Aktionen als Form des demokratischen Widerstandes!

2) Beteiligen Sie sich an diesen Aktionen zur Verteidigung des Grundgesetzes!

3) Prüfen Sie für die nächste Wahl, ob die Abgeordneten der Partei, die Sie bisher gewählt haben, diesen demokratischen Widerstandsgeist gezeigt haben.

UNRUHE IST DIE ERSTE BÜRGERPFLICHT

Evangelische Studentengemeinde

5. Zweites Pamphlet der Reutlinger USG (Unabhängige Schülergewerkschaft)

WIDER DAS GEISTLOSE; SANFTLEBENDE; UNFEHLBARE; UND UNBELEHRBARE

FLEISCH ZU REUTLINGEN

2. Pamphlet der Unabhängigen Schülergewerkschaft

  • Die Überschriften unserer Flugblätter sind natürlich Porno- wenn aber Schüler als "faule Sausäcke" und "sexuelle Wildschweine" beschimpft werden, sonnt sich die Lehrerschaft im Bewusstsein ihrer Überlegenheit.
  • Zigaretten von Schülern sind brandgefährlich - die Ausnahme - Glimmer von Lehrern und Hausmeistern jedoch nicht.
  • Demonstrationen, durch die sich Heuchler in der Kirche auf den Schlips getreten fühlen, sind Terror - Prügeleien im Klassenzimmer dagegen pädagogisch wertvoll.
  • Der Lehrkörper, als ein eben in seiner Art ganz besonderer Körper, ist anscheinend in der Lage, diese Widersprüche ohne Magenbeschwerden zu verdauen. Er steht außerhalb der Gesetze des Rechts, der Logik und der Physik und deshalb sind ihm einsichtig gehorsame, kritiklose, daher wahrhaft progressive Schüler (siehe IKG) besonders lieb.
  • Wir "introvertierten Elfenbeinrevolutionäre" und alle, die mit uns sympathisieren, sollten uns eigentlich schämen, das nicht anzuerkennen.
  • Nichtsdestoweniger haben wir es uns abgewöhnt, zu unseren "liberalen", Direktoren aufzuschauen, die, ob ihrer eigenen Konzilianz sich selbst auf die Schulter klopfend, nicht bemerken wollen, dass sie in ihrer prangenden Unfehlbarkeit das größte Hindernis für die demokratische Initiative der Schüler darstellen.

 Die USG bereitet ein Weißbuch über missbrauchte Autorität vor. Helft uns! Wendet euch, wenn s an eurer Schule stinkt, an unsere Kontaktleute:

R...F..., Kepler-Gymnasium ...

T...W..., Fr.-List-Gymnasium ...

HAUT DEN LEHRERN AUF DEN HUT!

(und nie vergessen: nur ein toter Lehrer ist ein guter Lehrer)

Autorenkollektiv: f...-W...-W...

Für Berliner und andere Demokraten: keine Aufforderung zum Totschlag - sondern IRONIE !!!

6. Artikel aus dem Reutlinger Wochenblatt vom 19. Januar 1968, bezogen auf das zweite Pamphlet der Reutlinger USG (siehe oben)

Nur ein toter Lehrer...

Die unabhängige Schülergewerkschaft Reutlingen verteilte in diesen Tagen ihr 2. Pamphlet. "Die Überschriften unserer Flugblätter sind natürlich Porno..." gestehen die namentlich genannten Verfasser. Freilich, auch die Ausdrücke einiger Lehrer im Unterricht dokumentieren - wenn sie so gefallen sind, woran zu zweifeln wir keinen Grund haben - keinen feinen Lebensstil. "Faule Sausäcke" und "Sexuelle Wildschweine" titulieren Lehrer im Kreis Reutlingen Schüler. Und dann zählen die Autoren eine Reihe von Beobachtungen auf, die ihrer Meinung die Behauptung stützen, an unseren Schulen herrschten noch zuviel Diktatur und Heuchelei.

Es heißt auf dem Flugblatt unter anderem: Zigaretten von Schülern sind ganz offenkundig brandgefährlich - die Ausnahmeglimmer von Lehrern und Hausmeistern jedoch nicht.

Demonstrationen, durch die sich Heuchler in der Kirche auf den Schlips getreten fühlen, sind Terror - Prügeleien im Klassenzimmer dagegen pädagogische Maßnahmen. Der Lehrkörper, als ein eben in seiner Art ganz besonderer Körper, ist anscheinend in der Lage, diese Widersprüche ohne Magenbeschwerden zu verdauen. Er steht außerhalb der Gesetze des Rechts, der Logik, und der Physik, und deshalb sind ihm einsichtige, gehorsame, kritiklose, daher wahrhaft progressive Schüler (siehe Isolde-Kurz-Gymnasium) besonders lieb.

Wir "introvertierten Elfenbeinrevolutionäre" und alle, die mit uns sympathisieren, solten uns eigentlich schämen, das nicht anzuerkennen.

Nichtsdestoweniger haben wir es uns abgewöhnt, zu unseren "liberalen" Direktoren aufzuschauen, die, ob ihrer eigenen Konzilianz, sich selbst auf die Schulter klopfend, nicht bemerken wollen, dass sie in ihrer prangenden Unfehlbarkeit das größte Hindernis für die demokratische Initiative der Schüler darstellen.

Zum Schluss bitten Rainer Fischbach, Kepler-Gymnasium, und Tobi Witsch, Friedrich-List-Gymnasium, um Mitarbeit.

Ihr Motto lautet: "Haut den Lehrern auf den Hut!" ("Nur ein toter Lehrer ist ein guter Lehrer").

 

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